Kriegsgefangenen - Arbeitskommando 1202 Norderney Am Volkstrauertag gedenken wir der Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft. Auf Norderney erinnern Denkmäler an die Gefallenen beider Weltkriege. Während des Ersten Weltkrieges wurden 139 Söhne und Väter ihren Familien entrissen und im damaligen Feindesland bestattet bzw. starben den Seemannstod. Unter den fast 50 Millionen Menschen, die weltweit durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen sowie den Rassenwahn der Nationalsozialisten getötet und ermordet wurden, waren 323 Einwohner dieser Insel, die als Soldaten starben und deren Namen auf den Gedenksteinen vermerkt sind. Die gefallenen Soldaten beider Weltkriege, die auf der Insel stationiert waren, dazu Kriegstote, die am Strand und im Meer geborgen wurden, fanden auf dem Ehrenfriedhof eine letzte Ruhestätte. Bestattet wurden mehr als 66 deutsche Soldaten des Ersten Weltkrieges, dazu sechs russische Kriegsgefangene, die auf der Insel interniert waren — tausende Kilometer von ihren Heimatorten entfernt. ' In 140 Gräbern liegen die toten Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Kaum bekannt ist, dass auf dem Friedhof auch Soldaten der damaligen Feindmächte bestattet wurden. In einem Verzeichnis der WMarineintendantur Norderney sind 85 ausländische Kriegstote vermerkt: 50 Engländer, 8 Franzosen, 10 US-Amerikaner, 1 Kanadier und 16 Soldaten unbekannter Nationalität.” Ihre sterblichen Überreste wurden 1947 in die Heimatländer überführt. Verblieben sind auf dem Friedhof die sterblichen Überreste von zwei Kriegsgefangenen aus Polen: Stanislaw Pienkowski und Czeslaw Jaworski. „Auf der Flucht erschossen“ ist als Todes- ursache vom damaligen Standesbeamten im Sterbebuch ein - getragen worden. Ihr Todestag war der 25. Mai 1942, nachts um 1 Uhr. Die Todesursache „Auf der Flucht erschossen“ liefert einen ersten Hinweis auf ein Ereignis, welches sich vor mehr als 70 Jahren in den Dünen des Ostlandes der Insel ereignete. Schrift- dokumente mit genauen Angaben zum Tathergang liegen dazu nicht vor. Die Hintergründe und der Ablauf stützen sich auf Angaben von Zeitzeugen, die vom Stadtarchiv befragt worden sind. Ella Carls, geborene Heyen (1920 - 2012), wie auch Agnes Daehne, geb. Harms (1929 — 2011), die beide auf den Domänen im Inselosten groß geworden sind, konnten sich erinnern. Hinweise lieferte auch Frau Theda Witte, geb. Heyen, die noch heute auf der Domäne Grohde lebt. Ihr Wissen beruht auf Informationen, die sie vom Wachpersonal und von Kriegs- gefangenen erhalten haben. Auch heute noch werden vom Volksbund Deutsche Kriegs- gräberfürsorge e.V. im Ausland gefallene deutsche Soldaten geborgen und auf einem der vielen Soldatenfriedhöfe einer würdigen Bestattung zugeführt. Auch die Angehörigen der gefallenen Soldaten und zivilen Opfer im Ausland trauern um ihre Angehörigen. Stanislaw Pienkowski und Czeslaw Jaworski blieb eine würdige Bestattung versagt. Ein sichtbares Zeichen an ihren gewaltsamen Tod fehlt. Gleich dem Gedenken an deutsche Soldaten im Ausland, sollte auf unserer Insel die Erinnerung an Stanislaw Pienkowski und Czeslaw Jaworski wach bleiben. Nr. 16/Dez. 2012 Stadtarchiv Norderney Französische Kriegsgefangene beim Ernteeinsatz auf der Domäne Eiland.* Kriegsgefangenschaft und Arbeitseinsatz Während des Zweiten Weltkrieges gerieten Millionen von Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die ersten Kriegsgefangenen waren im September/Oktober 1939 Polen, im Mai 1940 Belgier, ab Juni/Juli 1940 dann Franzosen, im Frühjahr 1941 Serben und ab Mitte 1941 eine zunehmend größer werdende Zahl an Rotarmisten. Die letzte große Gruppe stellten ab September 1943 italienische „Militär-Internierte“. Bereits ab Anfang September 1939 wurden nach dem Überfall auf Polen auf Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) im Reichsgebiet Kriegsgefangenenlager eingerichtet, die den Wehrkreis- kommandos zugeordnet waren. Der Nordwesten des Reiches lag im Bereich des Wehrkreises X — sprich zehn — mit Sitz des Kommandos in Hamburg. Bezeichnet wurden diese Lager mit der römischen Ziffer des Wehrkreises und einem Kennbuchstaben. Ostfriesland, Oldenburg, Bremen Cloppenburg, Vechta, Nienburg und Verden lagen im Verwaltungs- und Zuständigkeitsbereichs des Kriegs- gefangenen - Mannschaftsstammlagers (Stalag) X C Nienburg. Das im Frühjahr und Sommer 1940 errichtete Lager führte 1940 einen Bestand von etwa 27 200 Gefangenen aus Frankreich (16 500) und Belgien (10 700).° Ende 1941 waren es 36 282 Gefangene: 20 225 Franzosen, 3 037 Belgier, 4 340 Gefangene aus südosteuropäischen Staaten, 8 147 Russen und 533 Polen.‘ Von der großen Zahl der Kriegsgefangenen war nur ein geringer Teil im Stammlager festgesetzt, die Masse verteilte sich auf etwa 800 Arbeitskommandos (Stand: März 1941) im Zuständigkeitsbereich des Stalags XC. Denn mit der Ausweitung des Krieges stiegen die Verluste der Wehrmacht, weshalb immer neue Jahrgänge den Einberufungsbefehl erhielten. Damit gingen der Wirtschaft und der Rüstungsindustrie zunehmend Arbeitskräfte verloren, die durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ersetzt wurden. Grundlage des Arbeitseinsatzes von Kriegsgefangenen war das Genfer Kriegs- gefangenenabkommen von 1929, wonach Mannschaftsdienstgrade zu allen nichtmilitärischen Arbeiten herangezogen werden konnten. Das Stalag X C hatte somit den Charakter eines Durchgangslagers. Neuzugänge an Kriegsgefangenen wurden zumeist im Stalag X B Sandbostel bei Bremervörde registriert, dann dem Lager in Nienburg zugewiesen und auf Arbeitskommandos verteilt. Diese Arbeitskommandos bestanden aus einer unterschiedlich großen Zahl an Gefangenen. Untergebracht waren sie in bewachten und geschlossenen Barackenlagern, in den Dörfern auch in Scheunen oder anderen Gebäuden. Eingesetzt wurden Kriegsgefangene im Nordwesten hauptsächlich in der Landwirtschaft, bei Handwerkern und in anderen Klein- betrieben. Über Nacht blieben die Gefangenen im Lager interniert und morgens zumeist unter Bewachung ihren Arbeitsstellen zu- geführt oder sie verteilten sich an bestimmten Sammelpunkten. Der Arbeitseinsatz war bis 1942 zwischen dem Stalag und dem Arbeitgeber vertraglich geregelt. Der Arbeitgeber hatte den Einsatz zu bezahlen, die Gefangenen erhielten eine geringe Vergütung. Alle Kriegsgefangenen im Arbeitseinsatz mussten bei den Berufs- genossenschaften gegen Unfall versichert werden. Für einige wenige der auf Norderney eingesetzten Kriegsgefangenen und Zwangs- arbeiter, liegen auch im Stadtarchiv Norderney entsprechende Nachweise vor - sich dabei auf Personen beschränkend, die einen Arbeitsunfall erlitten haben. Kriegsgefangenen-Arbkdo 1202 Norderney Der Alltag der Kriegsgefangenen bestand aus harter Arbeit. Bei Außenarbeiten schützte die Kleidung - fast ausschließlich die Uniform - kaum vor Hitze und Kälte, die Verpflegung reichte nicht aus und war zumeist einseitig. Auch die Bedingungen in den Unterkünften waren zumeist schlecht. Zudem unterlagen sie der Willkür der Wachleute und Arbeitgeber, wobei auch Gewalt aus- geübt wurde. Kriegsgefangene, die bei der Arbeit nachlässig oder aufsässig und besonders durch Diebstahl oder Fluchtversuche straffällig geworden waren, wurden mit dem Entzug von Essens- rationen, Arrest, mit Einweisung in ein Straflager, Gefängnis und Zuchthaus bestraft. Das Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1202 Norderney, so die offizielle Bezeichnung, gehörte zu den Straflagern, die auf den Ostfriesischen Inseln aufgebaut wurden, weil unter anderem von dort Fluchtversuche kaum möglich waren. Auf Langeoog bestanden mehrere Arbeitskommandos, wo in getrennten Lagern Franzosen, Russen und Belgier interniert waren. Im „Russenlager“ waren die Unterbringung und die Versorgung besonders unmenschlich, dazu wurden die Gefangenen „von den Wachposten und bei der Arbeit von den Aufsehern bestialisch behandelt und schikaniert“.” Von August bis Dezember 1941 starben 108 russische Gefangene an Flecktyphus. Alle Verbliebenen sind darauf erschossen worden. Sehr schlechte Bedingungen herrschten auch bei dem Langeooger Unterkommando auf der Insel Juist, wo etwa 60 Gefangene am Bau einer Radarstellung beteiligt waren. Die Lager auf den Inseln waren der Bezirkstelle Wittmund des Stalags X C zugeordnet. Das Straflager 1202 auf Norderney ist wahrscheinlich Mitte des Jahres 1940 errichtet worden. Für den Bau wurde ein mit flachen Dünen besetztes Areal unweit des Leuchtturmes, etwa vier Kilometer vom Ort (Wasserturm) entfernt, gewählt. Vermutlich war die Nähe zu den Domänen, vor allem aber zur Baustelle des Seedeiches für den geplanten neuen Militärflughafen (Südstrandpolder) entscheidend für die Standortwahl. Aus den Unfallanzeigen geht hervor, dass kriegs- gefangene Franzosen von September 1940 bis November 1941 für das Bauunternehmen Hermann Möller; Wilhelmhaven, am „See- deich“ arbeiten mussten. Beim Deichbau beschäftigt waren auch angeworbene Arbeiter aus den Niederlanden, die im „Gemeinschafts- oder Unterkunftslager“ der Organisation Todt am Wasserturm unter- gebracht waren.® Bereits im verlauf des Jahres 1941 wurde der Bau des Flugplatzes im neuen Südstrandpolder aufgegeben. Bei verschiedenen Baukommandos, in der Landwirtschaft auf den Domänen und bei verschiedenen Handwerkern wurden auf Norderney Kriegsgefangene eingesetzt. Während der Weg vom Lager zu den Domänen nur kurz war, mussten die im Ort arbeitenden Gefangenen einen Fußweg von vier Kilometern zurücklegen. Zumeist geschah ihr Transport aber mit einem Pferdefuhrwerk. Auf eine Bewachung der Gefangenen durch einen Wachmann des Lagers wurde dabei oft verzichtet. An einer Sammelstelle im Ort verteilten sich die Gefangenen auf die einzelnen Betriebe. Lage des Kriegsgefangenenlagers auf Norderney (TOP 1:25000, 1942) Unterkünfte Plan des Kriegsgefangenenlagers, Zustand Oktober 1944. Der Lagerkomplex bestand 1944 aus drei Unterkunftsbaracken und einer Küche. In einer weiteren Baracke waren die Lagerleitung und die Wachmannschaft untergebracht. Ein hoher Zaun aus Stacheldraht und Holzpfählen umfasste die Unterkunftsbaracken und die Küche. An den Eckpunkten des umzäunten Areals (etwa 2 500 bis 3 000 Quadratmeter) befanden sich keine Wachtürme. Bei den noch heute in der Umgebung des Lagers sichtbaren Betonpfeilern handelt es sich um die Fundamente der Marine- Nachrichtenstelle aus dem Ersten Weltkrieg.'” Die Größe und Verteilung der Gebäude des Lagers gehen aus der Luftaufnahme der Royal Air Force von Oktober 1944 hervor. Ob dieser Zustand bereits im Herbst 1940 vorhanden war, bleibt weiteren Nachforschungen vorbehalten. Für die Zahl der Gefangenen ergeben sich abweichende Angaben: Friese und Röben (2008) nennen 40 bis 50 Gefangene, Zeitzeugen sogar etwa 100. In der im Jahr 1949 vom Belgischen Nationalen Suchdienst durchgeführten Erhebung über Gefängnisse und Lager für Kriegsgefangene wird eine Zahl von 24 angegeben, wobei es sich ausschließlich um französische Gefangene handelte.'' Sicher ist, dass die Zahl und die Nationalität der Gefangenen im Arbeitskommando 1202 Norderney im Verlauf des Krieges verschieden war. Zumeist waren es französische, dagegen nur wenige polnische Gefangene, ab Herbst 1943 über einen kurzen Zeitraum auch italienische „Militär-Internierte“. Der geringe Anteil polnischer Kriegsgefangener in den Stalags und ihren Arbeitskommandos ist dadurch bedingt, dass 1940/41 zwei Drittel der polnischen Kriegsgefangenen in den Zivilstatus entlassen wurden, um fortan als Zwangsarbeiter ausgebeutet zu werden. Russische Kriegsgefangene waren im Straflager auf Norderney nicht interniert. Diese waren im Reichsgebiet abgesondert von den Gefangenen anderer Nationalität in eigenen Lagern untergebracht. Bei den auf Norderney eingesetzten Russen und Ukrainern handelte es sich ausschließlich um sogenannte Ostarbeiter, die sich zum Dienst im Reichsgebiet freiwillig gemeldet hatten bzw. dazu ver- pflichtet worden waren. Sie waren in Einzelbaracken im Bereich von Geschützbatterien und Munitionslagern untergebracht. Die vom Belgischen Nationalen Suchdienst durchgeführte Zusammenstellung liefert Informationen über das Lager, den Häftling sowie die „Lebensordnung“. Vermerkt sind die Zustände, wie sie im Arbeitskommando 1202 Norderney Ende 1944/Anfang 1945 herrschten: bei der Zahl der Gebäude wird im Gegensatz zum Luftbild nur eine Holzbaracke als „Zahl der Gebäude‘ genannt, die mit 24 Gefangenen belegt war. Das Lager wurde bei Tag und Nacht von einer ständigen Wache gesichert, die aus einem Kommandoführer und einem Wachmann bestand. Gestellt wurde die Wachmannschaft, deren Gesamtzahl nicht bekannt ist, von der 3. Kompanie des Landesschützenbataillons 671. Zur „Lebensordnung“ ist angegeben, dass die Gefangenen die Arbeitsstelle ohne Bewachung erreichten und ihnen eine Vergütung nach den Sätzen des Stalag X C gezahlt wurde. Die Arbeitszeit betrug acht Stunden an sechs Tagen in der Woche. Der Sonntag diente zum Reinigen der Unterkunft und zum „Appell in verschiedener Art“. Im Gegensatz zum Lageraufenthalt, bei der Arbeit auf Großbau- stellen und bei Kultivierungsarbeiten waren die Bedingungen für die Kriegsgefangenen in kleinen Handwerksbetrieben und der Landwirt- schaft zumeist erträglicher. Den Umgang regelte eine Vielzahl von Bestimmungen, zu deren Einhaltung der Arbeitgeber verpflichtet war. Konnte man sich vor Denunziation sicher sein oder geschah dies nicht vor den Augen der Öffentlichkeit, so nahmen doch Arbeitgeber und ihre Angehörigen Anteil am Schicksal der Gefangenen und ließen es an Humanität nicht fehlen. Dem Stadtarchiv liegen Informationen vor, wonach nicht nur Erwachsene sondern auch Norderneyer Schulkinder den Gefangenen heimlich Essen, Zigaretten, zu Weihnachten ein kleines Geschenk, zukommen ließen. Doch es liegen auch Hinweise vor, dass überzeugte National- sozialisten keineswegs Scheu davor hatten, tatsächliche und ver- meintliche Vergehen der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter zur Anzeige zu bringen bzw. deren Arbeitgeber zu denunzieren. „Auf der Flucht erschossen“ Den Soldaten, die dem Tod an der Front entronnen waren und danach in Gefangenschaft gerieten, stand eine ungewisse Zukunft bevor. Der Freiheit und Selbstbestimmung beraubt, unterlagen sie weiterhin Befehlen, deren Verweigerung mit Haftverschärfung und schlimmstenfalls mit dem Tod geahndet wurde. Der Gefangene war Repressalien und Misshandlungen ausgesetzt, wobei Kommando- führer und Aufseher nicht vor willkürlicher Gewalt zurück- schreckten. Die Kleidung schützte kaum vor Kälte, Regen und Hitze. Die Verpflegung reichte kaum aus, um den Hunger zu stillen. Schwäche und Auszehrung waren die Folge und die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten stieg. Auch der psychische Druck war enorm: Die Sorge um das eigene Wohlergehen und das der Angehörigen und Kameraden bedrückten den Gefangenen. Die Aussichtslosigkeit der Gefangenschaft, die unwürdige Behandlung, Unrecht und Respekt- losigkeit setzten den Gefangenen zu. Nicht wenige verzweifelten an diesem Leben — das keines war —, nicht wenige versuchten aus diesem Dasein auszubrechen. Denn trotz des erbärmlichen Daseins blieb die Hoffnung, dass die Gefangenschaft einmal enden und die ersehnte Freiheit kommen würde. Fluchtversuche wurden meist mit Strafen zwischen zwei bis fünf Wochen „Arrest“ geahndet, im Wiederholungsfall erfolgte eine Einweisung in ein Straf- oder Sonderlager. Besonders den Arbeitskommandos auf den Ostfriesischen Inseln wurden Gefangene zugewiesen, die bereits Fluchtversuche unternommen hatten. Von den Inseln, kilometerweit durch das Watt mit seinen tiefen Rinnen vom Festland getrennt, schien eine Flucht kaum möglich. Und doch haben einige Wagemutige die Flucht versucht. Fernand Masson, französischer Kriegsgefangener auf Langeoog und Juist, erwähnt in seinen Erinnerungen nicht nur eigene Fluchtversuche, sondern ebenso von anderen Gefangenen.'” Die Flucht mit einem Boot von vier Franzosen und einem Belgier am 6. Oktober 1942, welches auf See aufgebracht wurde, erwähnt auch Hans-Jürgen Jürgens." Einen bis heute nur sehr wenigen Einwohnern bekannten und bislang nicht dokumentierten Fluchtversuch unternahm eine Gruppe von Gefangenen des Arbeitskommandos 1202 Norderney in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 1942. Dieser Fluchtversuch, wobei die genaue Anzahl der Beteiligten letztlich nicht bekannt ist, wurde über mehrere Tage vorbereitet, dazu wurden Nahrungsmittel, die bei der Arbeit auf den Domänen beiseite geschafft worden waren, gehortet. Die Verbindung zwischen Lebensmittelbeschaffung und Flucht wurde aber erst nach dem missglückten Versuch festgestellt. Geplant war eine Flucht über See mit dem Ruderrettungsboot „Emden“ der Oststation der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Die Station lag etwa 500 Meter nördlich des Leuchtturms und war über einen Fußweg erreichbar. Für das Pferdegespann, welches das auf einem Transportwagen lagernde Rettungsboot zum Strand ziehen musste, verlief östlich der Domäne Grohde ein unbefestigter Weg, dem die heutige Straße zur „Oase“ folgt. Dieses Boot, 1939 ausgemustert, war 8,50 Meter lang, 2,50 Meter breit und wog 650 Kilogramm. Dass hier, am Rand höherer Dünen und in guter Entfernung, ein Boot lagerte, mit dem eine Flucht von der Insel möglich war, davon müssen die Gefangenen irgendwann erfahren haben. Fluchtpläne reiften, worin sicherlich nur wenige Gefangene des Lagers ein- geweiht waren. In der Nacht, der Zählappell lag schon lange zurück, muss sich eine Gruppe unter Mitnahme der gehorteten Verpflegung in der Baracke zur Flucht bereit gemacht haben. Die Gruppe hat dann den Zaun des Lagers überwunden und erreichte nach einem Fußmarsch durch die Dünen den Rettungsbootschuppen. Das Doppeltor wurde geöffnet und mit aller Kraft versuchten nun mehrere Männer den Transportwagen mit dem Boot aus dem Schuppen zu ziehen. Dies gelang ihnen zunächst auch, doch bereits nach wenigen Metern „rutschte“ das Boot vom Wagen. Es ist anzunehmen, dass sie immer wieder mit aller Kraft versucht haben, das Boot wieder auf dem Wagen zu positionieren, was letztlich nicht gelang. Damit war der Versuch, der Gefangenschaft zu entfliehen, gescheitert. Macht man sich mit der Geländebeschaffenheit vertraut und zieht Hinweise über den aufwendigen Transport des Bootes heran, wofür als Vorspann sechs Pferde nötig waren, so lässt dies den Schluss zu, dass die Flucht mit dem Rettungsboot keinesfalls gelingen konnte. Der Norderneyer Jan Janssen, der an einer Übungsfahrt mit der „Emden“ beteiligt war, berichtete: „Der schwere Bootswagen mit dem Boot schwankt durch das Dünengelände auf die Niederung zu“, die im Winter unter Wasser steht und auch im Sommer nach Regenfällen feucht ist. „Um ein Einsinken in den seichten Boden zu verhindern, sind die hinteren Räder des Bootswagens mit recht- eckigen Radplatten versehen. Diese verursachen ein Geräusch, das mich an das Kommen eines französischen Tankgeschwaders (Anm.: Panzerangriff) erinnert.“ Zwischen den hohen Randdünen musste ein Deich überwunden werden. „Die Pferde berühren mit dem Bauch fast den Erdboden, so beschwerlich ist diese kurze Strecke.“ Die Distanz zwischen der Station und dem Deich vor dem Nordstrand betrug etwa 600 Meter, von dort bis zur Wasserlinie weitere 500 Meter. Eine lange Wegstrecke, mit wechselnden, sehr schwierigen Bodenverhältnissen, was bereits den Transport mit Pferden nicht einfach machte. Diese Unwägbarkeiten des Geländes muss den Flüchtenden nicht bekannt gewesen sein. Ihre Flucht aus dem Lager muss nachts festgestellt worden sein. Durch welche Umstände ist nicht bekannt. Auch die weiteren Ereignisse sind nicht eindeutig geklärt. Ob die Wachmannschaft alarmiert wurde und eine Suche nach den Geflohenen folgte, darüber haben auch die Zeitzeugen keine Erklärungen machen können. Nach ihren Informationen haben sich mehrere Gefangene sogleich ergeben, doch zwei Gefangene haben sich der Festnahme entziehen wollen und sind flüchtend von Wachleuten erschossen worden. Weniger über den Fluchtversuch, als vielmehr über den grausamen Mord an den beiden polnischen Gefangenen berichtet auch Fernand Masson: „Drei Polen waren in der Hoffnung, über das Meer zu entkommen, aus dem Lager geflohen. Aus einem Grund, den ich vergessen habe, aber der zweifellos auf Überhastung zurückzuführen war oder auf Unüberlegtheit, sahen sie sich gezwungen wieder umzukehren. Während der eine von Ihnen den vernünftigen Entschluß fasste, außerhalb der Umzäunung zu bleiben und sich in den Dünen zu verstecken, wurden die beiden anderen, die ins Lager zurückgekehrt waren, aufgegriffen, zu Boden geworfen und trotz ihrer Schreie und ihres inständigen Flehens mit Bajonetten durchbohrt und schließlich mit einem Genickschuß getötet. Vor ihre furchtbar verstümmelten Leichen führte man im Morgengrauen den dritten, der von der Inselpolizei aufgegriffen worden war. Wie durch ein Wunder entging er demselben furchtbaren Tod ...“ > Fernand Masson stellt den Tathergang des Mordes an den beiden Kriegsgefangenen im Vergleich zu den Erinnerungen der Zeitzeugen anders dar, ist dabei aber konkreter. Auch er wusste von dem Vorfall nur durch Hörensagen, denn seine Leidenszeit im Arbeitskommando Langeoog begann erst im Juni 1942, also einige Wochen nach dem Vorfall auf Norderney. Dass er davon Kenntnis erhielt zeigt, dass zumindest ein gewisser Austausch von Informationen über besondere Ereignisse in den verschiedenen Arbeitskommandos auf den Inseln zwischen den Gefangenen vorhanden war. Der Tod der beiden Gefangenen wurde von der „Wehrmachts- auskunftsstelle für Kriegerverluste und Kriegsgefangene“ in Berlin dem Standesamt Norderney gemeldet. Darin finden sich zu Stanislaw Pienkowski und Czeslaw Jaworski nachstehend angeführte Daten: Stanislaw Pienkowski wurde am 9. Februar 1916 in Naborowiec geboren, war Schlosser von Beruf und wohnte mit seiner Frau Apolonia in Nowy Dwor, Kreis Warschau. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde er zur polnischen Armee eingezogen und diente in einem „Elektrotechnischen Bataillon“.'" Nach Informa- tionen, die das Stadtarchiv vom Zentralen Museum der Kriegs- gefangenen in Lambinowic/ Opole (Oppeln/Polen) erhalten hat, geriet der Soldat Pienkowski am 18. September 1939 i in der Nähe der Kreisstadt Kalisz in deutsche Kriegsgefangenschaft. '” Einzelheiten über seine Gefangenschaft in den Jahren 1939 und 1940 liegen nicht vor. In einer Zugangsliste des Stalag XI B Fallingbostel vom 16. März 1941 geht hervor, dass er zuvor im Stalag XII A Sulzbach (Sulzbach-Rosenberg/Oberpfalz) inhaftiert war.'® Nach einmonati- ger Gefangenschaft in Fallingbostel wurde Pienkowski mit weiteren 1 551 polnischen Gefangenen am 16. April 1941 an das Stalag X C Nienburg überwiesen und dem Kommando 544 in der Gemeinde Wagenfeld/Kr. Diepholz zugeteilt. Am 8. August 1941 erfolgte seine Zuweisung zum Arbeitskommando 1202 Norderney. Die Kriegssterbefallanzeige über Czeslaw Jaworski enthält folgende Angaben: Geboren am 18. Juli 1923 in Czestochowa (Tschen- stochau), Beruf: Schlosser, diente als Soldat 1. Klasse im Rekruten- Regiment der französischen Armee. Obwohl polnischer Nationalität wird er in der Anzeige als französischer Kriegsgefangener geführt. ?° Zehntausende polnische Soldaten entzogen sich der deutschen Gefangenschaft durch die Flucht über Ungarn und Rumänien nach Frankreich. Hier erfolgte die Aufstellung einer polnischen Exilarmee. Czeslaw Jaworski gehörte demnach einer Einheit der polnischen Exilarmee an, befand sich aber noch in der Militärausbildung. Die Ermordung von Stanislaw Pienkowski und Czeslaw Jaworski blieb den Einwohnern der Insel weitestgehend verborgen. Ihre Leichen wurden dem Inselfriedhof zugeführt und dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne den Segen eines Geistlichen begraben. Im Gegensatz zu den auf Norderney bestatteten Kriegs- toten der Westmächte wurden sie nicht auf dem Soldatenfriedhof bestattet. Als Begräbnisplatz wählte man eine Stelle östlich der heutigen Friedhofskapelle im gemeindeeigenen Teil des Friedhofes. Kreuze mit den Namen der Toten wird man nicht aufgestellt haben — ein Totengedenken blieb ihnen versagt. Der Tod dieser beiden Kriegsgefangenen auf Norderney war ein Akt gnadenloser Gewalt, der durch das Kriegsrecht nicht sanktioniert war. Schuldig gemacht haben sich Wachmänner des Arbeits- kommandos 1202 Norderney. Diese Tat — kein Einzelfall während des Zweiten Weltkrieges — offenbart die Barbarei des politischen und militärischen Systems während der NS-Diktatur. Gefangenschaft und Zwangsarbeit in beiden Weltriegen gehören zur Geschichte unserer Insel. Es bleibt einer Gesamtdarstellung vorbehalten, die verschiedenen Aspekte des Einsatzes von Kriegsgefangenen und der „Ausbeutung durch Arbeit“ auf der Insel Norderney vor dem „Vergessen“ zu bewahren. Dieser Beitrag im „Archiv-Journal“ kann nur ein Anfang sein. Viele Unterlagen sind vernichtet worden bzw. sind noch nicht erschlossen. Schriftgut zur Kriegsgefangenschaft auf der Insel ist im Stadtarchiv Norderney kaum vorhanden. Deshalb sind Zeit- zeugen gefragt, die wichtige Hinweise auf die Unterbringung, den Arbeitseinsatz und den Alltag von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern liefern können. Wer dazu Angaben machen kann, der wende sich an das Stadtarchiv Norderney, Tel. 04932 840725 oder stadtarchiv@norderney.de. Anmerkungen l 2 3 Siehe „Von Sibirien nach Norderney“, Archiv-Journal Nr. 6/Dez. 2007. Stadtarchiv Norderney: Bestand 3.1 Nr. 13.600 015. Stadtarchiv Norderney, Bestand Standesamt, Sterbeeintrag Nr. 49 und 57 1942, Sterbebuch 1938 bis 1943. Privataufnahme, 1940. Zahlen und Informationen zum Stalag XC Nienburg laut Hans-Jürgen Sonnenberg: Gefangen hinter Stacheldraht. Oflag XB und Stalag XC Kriegsgefangenenlager in Nienburg. Hrsg. vom Museumsverein für die Grafschaften Hoya, Diepholz und Wölpe e.V., Nienburg 2005. Siehe Anm. 5, S. 58. Siehe Anm. 5, S. 124. 1938 von Fritz Todt gegründete Bautruppe für den Bau von Schutz- und Rüstungsprojekten. Zu Norderney siehe auch: Jürgen Friese und Bernd Röben: Die Festung Norderney im Zweiten Weltkrieg, Verlag Harry Lippmann, Köln 2008. Skizze gezeichnet nach einem Luftbild der Royal Air Force, Aufnahme vom 10. Oktober 1944. University of Keele, Great Britain, So. No. 140/1115, F. 36/A.18. Siehe Anm. 8, Friese und Röben, S.6. „Enquetes sur le prisons et les camps douteux“. Staatsarchiv Aurich, Rep.230, Nr. 90. Fernand Masson: Als Krieggefangener zwischen Weser und Ems“, Leer 1985. Hans-Jürgen Jürgens: Ereignisse aus unheilvoller Zeit, Wittmund 1989. Jan Janssen: Das Rettungsboot klar! In: Badezeitung und Anzeiger (Norderneyer Badezeitung), Beilage zu Nr. 24 vom 25.02.1933. Siehe Anm. 11, S. 21. . Stadtarchiv Norderney: Standesamt, Kriegssterbefallanzeigen von ausländischen Militärpersonen 1939 bis 1945. 17 Centralne Muzeum jencow Wojennych w Lambinowicach-Opolu (Lamsdorf bei Oppeln/Schlesien). 18° Seine Anm. 17, Zugänge des Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stamm- Lagers XI B, Meldung X 998, WASt-St. XI B, L.998. 5 Siehe Anm. 17, Gefangenen-Kartei, WASt.-Kdp., Nr. 12 2 Siehe Anm. 16. Impressum: Archiv-Journal. Herausgegeben von der Stadt Norderney. Redaktion: Manfred Bätje, Stadtarchiv Norderney Druck: Druckerei Otto Freund, Norderney, Auflage 500 Kontakt: Stadt Norderney/Stadtarchiv, Am Kurplatz 3 26548 Norderney, Tel./Fax. 04932/840725 E-Mail: stadtarchiv@norderney.de Info: www.stadt-norderney.de